Gestalte deinen Alltag

offenes Buch

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„Spätestens heute, am Dienstag, ist der Sonntag weit weg und der Alltag hat uns wieder. Meist geht es sogar noch schneller. Und oft habe ich dabei das Gefühl – der Alltag bestimmt mich, nicht ich den Alltag. Denn: Der Alltag ist für viele von uns ziemlich klar strukturiert, fast alles ist geregelt vom Weckerklingeln bis zum Abendbrot. Manchmal sprechen wir vom „grauen Alltag“. Und da ist ja, was dran. Denn das, was zur Lebensbewältigung gehört – Einkaufen, Waschen, Bügeln, Putzen, Müll entsorgen und anderes mehr, löst ja keine Hochgefühle aus. Das ist Pflicht – das ist Alltagsgeschäft, muss sein. Alltag, mit diesem Wort verbindet sich für mich auch so etwas wie getrieben sein. Es gibt Termine, Post, Mails, Anrufe, to-do-Listen usw.. Im Lauf eines Tages wird eine Menge geboten. Vor allen Dingen: Ich werde immer wieder gefordert. In meinen unterschiedlichen Rollen immer anders: Ich bin Konsument, bin Staatsbürger und Kollege; als Präses bin ich auch „Chef“. Ich bin Ehemann, Vater, Freund, Nachbar und vieles mehr. Und ich muss tagaus tagein entscheiden: Soll ich das kaufen? Muss ich um Entschuldigung bitten? Ist mein Engagement, ist mein Protest gefragt? Müsste ich mir nicht Zeit nehmen für einen Spaziergang, einen Anruf, ein Gespräch? Wo muss ich einem widersprechen, einem Gerücht zum Beispiel? Diese mühsame Seite des Alltags zu gestalten – das ist eine wichtige Aufgabe. Platz schaffen für Besonnenheit und für das Bunte im Alltag auch. Das vergesse ich leicht.
Von Martin Luther, der vor 500 Jahren lebte, habe ich gelernt: Christenmenschen dienen Gott im Alltag der Welt. Das ist eine hohe Wertschätzung des Alltags. Es bedarf keiner „kirchlichen Sonderzone“, man braucht keinen abgeschotteten Kirchenraum, um den Glauben zu leben. Das geht auch im alltäglichen Normalbetrieb.
Mehr noch: Der Alltag ist der Ernstfall des Glaubens und des Lebens. Für die Lebensbewältigung gibt es keine kirchenamtliche Gebrauchsanweisung. Jeder Mensch hat ein Gewissen. Er muss vor seinem Gewissen verantworten, wie er entscheidet, was er tut oder lässt. Ein Gewissen entwickelt sich. Durch Erziehung zum Beispiel. Und durch das Hören und Lesen der Bibel und der Auslegung der biblischen Lehren für unser Leben heute. Davon war Luther überzeugt. Das ist typisch evangelisch.
Der Alltag bringt viele Pflichten und Verpflichtungen mit sich, ja. Mit ein bisschen Abstand und aus dem Glauben heraus betrachtet kann ich sehen: Der Alltag birgt ungezählte Chancen und Möglichkeiten. Es kann etwas Neues beginnen. Es kann sich etwas entwickeln. Ich bin nicht nur der Getriebene, ich bin Akteur. Ich kann aus eingefahrenem Gleis ausbrechen.
Dafür brauche ich immer wieder ein bisschen Abstand: Ich kann überlegen: Wie kann ich heute in meinem Alltag Platz machen für kleine Inseln, auf denen ich innehalte und zum Beispiel überlege: Macht das jetzt Sinn? Was ist wichtig in meinem Leben? Ist es wichtiger, diese Akte zu bearbeiten, den Anzug in die Reinigung zu bringen oder einen Freund anzurufen, dem es schlecht geht? Brauche ich Zeit für einen Spaziergang in der Sonne, um Abstand zu gewinnen und Kraft zu tanken? Oder für die Tasse Tee mit einer Kollegin, einem Kollegen?
Alltag – grau und bunt. Alltag – Ernstfall des Lebens und des Glaubens. Mein Alltag ist mein Leben. Ich habe ihn und gestalte ihn, nicht er mich. Das ist die Freiheit, die ich habe – die Sie haben. Mut zu dieser Freiheit wünscht Ihnen, Ihr Präses Manfred Rekowski aus Düsseldorf.“

Dieser Beitrag wurde am 27.5.2014 auf Kirche im WDR gesendet