Auf Herz und Nieren

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„Das ist ja ein toller Zeitpunkt, denke ich. Wir schlendern gerade über den dritten Friedhof, noch angeschlagen von den letzten Tagen und sehr traurig. Wir suchen eine Grabstätte für meine Mutter. Am Tag zuvor ist sie gestorben. Da klingelt das Mobiltelefon. Mein Bruder geht dran, nimmt das Gespräch an. Er bleibt etwas zurück, dann berichtet er. Angerufen hat das Krankenhaus, in dem unsere Mutter gestorben ist. Die Ärzte wollen ihre Augenhornhaut testen. Vielleicht kann sie jemand brauchen. Wir sagen meinem Vater erst mal nichts. Wieder zuhause diskutieren wir. Meine Eltern sind immer davon ausgegangen, dass man mit über 80 als Spender oder Spenderin eines Organs gar nicht infrage kommt. Habe ich auch gedacht. Mein Vater kann sich nicht vorstellen, dass die Augenhornhaut seiner Frau entfernt wird. Dass irgendwer an ihren Augen herumschneidet.

Für ihn ist das auch eine Frage der Erinnerung.  Mein Sohn sieht das ganz anders. Er hat einen Organspende-Ausweis, seitdem sie das Thema im Reli-Unterricht intensiv besprochen haben. „Ich gebe etwas ab, das ich nicht mehr brauche“, sagt er pragmatisch und sehr überzeugt. Ich denke spontan an die vielen negativen Schlagzeilen der letzten Jahre. Da war immer wieder von Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe der Organe die Rede. Und ist man wirklich tot, wenn vom Hirntod die Rede ist? Bei meiner Mutter war das eindeutig. Sie hatte schließlich aufgehört zu atmen. Was ist, wenn einer von uns schwer erkrankt und ein Organ braucht? Eine Niere oder Leber oder das Herz? Dann wäre ich doch heilfroh, wenn er eins bekäme. Mehr als 10.000 Menschen warten in Deutschland auf ein Spenderorgan. Zum Teil viele Jahre. 2018 haben 955 Menschen ihre Organe gespendet. Im Vorjahr nur knapp 800. Ein Tiefpunkt. Ich habe von einem Mann gelesen, der großes Glück hatte. Die durchschnittliche Wartezeit auf eine Niere beträgt über sieben Jahre. Er hat schon nach drei Jahren eine bekommen. Und feiert seitdem zweimal im Jahr Geburtstag. Organspende kann ein Ausdruck der Nächstenliebe sein, sagen Theologen. Aber eine Pflicht zur Spende oder auch nur eine moralische Verpflichtung gibt es nicht. Wichtig ist doch, dass jeder und jede darüber nachdenkt, wie er oder sie dazu steht. Also quasi, wie es in Psalm 7,10 steht: Seine Entscheidung im wahrsten Sinne des Wortes auf Herz und Nieren prüft. Und dann seine Meinung den Angehörigen mitteilt. Dann entsteht nicht so ein Dilemma wie bei uns auf dem Friedhof.“

Dieser Beitrag wurde am 3.6.2019 bei Kirche im WDR gesendet. Autorin Dr. Uta Garbisch.