„Damit das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibe“

500 Jahre Evangelisches Gesangbuch, ein Beitrag von Gisela Würfel

Das Jahr 1524 gilt als das Geburtsjahr des evangelischen Kirchengesangbuches.

Natürlich haben die Menschen schon früher bei religiösen Ereignissen gesungen, die erste biblische Erwähnung des Singens finden wir im Buch Exodus (2. Buch Mose), als die Israeliten das Rote Meer durchquert hatten und so den ägyptischen Verfolgern entkommen waren. Mirjam haut auf die Pauke und ruft: „Lasst uns dem Herrn singen, denn er ist hoch erhaben, Ross und Reiter hat er ins Meer gestürzt.“ (Ex 15, 21)

In den Evangelien gibt es viele Hymnen und geistliche Lieder, besonders in der Weihnachtsgeschichte des Lukas. Der Apostel Paulus, dem in seinen Briefen die Weitergabe des Wortes in Liedern wichtig ist, war der Meinung, im Zentrum des Gottesdienstes solle die göttliche Stimme stehen, also der Gesang (1. Kor. 14).

Im Mittelalter wurden die Gesänge in der Kirche von ausgebildeten Sängern (Mönchen) oder der Schola in Latein vorgetragen, die Gemeinde war nur passiv beteiligt.

Nachdem Martin Luther die Bibel ins Deutsche übersetzt hatte und die Gemeinde die biblischen Texte nun verstehen konnte, war es ihm ein Anliegen, dass auch Lieder gesungen wurden, wodurch die Gemeinde aktiv am Gottesdienst beteiligt war. Hierzu bat er einige Freunde um passende Liedtexte und schuf auch selbst Lieder, die bald gedruckt wurden. Es waren zunächst Einblattdrucke, die 1524 im sogenannten „Achtliederdruck“ des Nürnberger Druckers Jobst Gutknecht zusammengefasst erschienen. Vier von diesen Liedern sind noch nachzuweisen:

„Nun freut euch, lieben Christen gmein“

„Es wolle Gott uns gnädig sein“

„Gelobet seist du, Jesu Christ“

„Jesus Christus, unser Heiland“

Aus diesen Anfängen entstand eine riesige Gesangbuchbewegung, für die Luther die treibende Kraft war. Er schrieb selbst über 40 Liedtexte und 20 neue Melodien. Da das Singen von muttersprachlichen Texten in der katholischen Kirche verboten war, wurde das Singen von deutschen Texten zur tragenden Kraft des evangelischen Gottesdienstes. Im gleichen Jahr 1524 erschienen in verschiedenen Städten Handbücher mit christlichen Gesängen im Umfang von 8 – 48 Blättern, die wir teilweise noch heute im EG finden.

Auch nach Luthers Tod ging die Gesangbuchbewegung weiter. Das Babstsche Gesangbuch von 1545 wurde zum Modell für spätere lutherische Gesangbücher., sowohl in der Gestaltung als auch in der Einteilung der Gesänge, wie wir sie in erweiterter Form auch heute noch im EG finden. Das Babstsche Gesangbuch enthält eine Vorwarnung Luthers, die sich auch in vielen Gesangbüchern der damaligen Zeit findet. Wie aktuell sie ist, sollte sich aber erst später zeigen:

„Viel falscher Meister jetzt Lieder tichten / sihe dich für und lass sie recht richten / Wo Gott hinbawt sein Kirche vnd Wort /  Da will der Teufel sein mit Trug und Mord.“

An einem der vielen Gesangbücher dieser Zeit arbeitete auch Johann Sebastian Bach mit. Er verarbeitete einige Choräle der Zeit in seinem Weihnachtsoratorium und der Johannes Passion („Valet will ich dir geben“)

Im 17. Jahrhundert entstand eine unüberschaubare Menge neuer Lieder und Gesangbücher, z. T. auch für den privaten und öffentlichen Gebrauch. Diese Entwicklung ging einher mit dem raschen Wachstum von protestantischer Erbauungsliteratur, also Schriften für die individuelle Frömmigkeit und Lebensgestaltung. Der größte Anteil der Lieder im heutigen EG stammt aus dem 17. Jahrhundert, besonders Lieder in den Rubriken „Geborgen in Gottes Liebe“ (EG 396 – 411) und „Sterben und ewiges Leben“ (EG 516 – 535).

Prägend für die Lieder dieser Zeit  ist natürlich auch der 30jährige Krieg. Die Menschen suchten göttlichen Trost in Zeiten von Krieg, Hunger, Seuchen und Tod und versuchten, das tägliche Elend mit dem christlichen Glauben in Einklang zu bringen. Der lutherischen Theologe und Superintendent Josua Stegmann schrieb 1627 das Lied  „Ach bleib mit deiner Gnade“ (heute EG 347), Paul Gerhardt (1607 – 1676)  ist wie kein anderer mit dem evangelischen Gesangbuch verbunden. Von seinen 120 gedichteten Liedern stehen heute noch 26 im EG .Paul Gerhardt erhielt eine gute Schulbildung und studierte dann in Wittenberg u. a. Theologie. Er wurde Pfarrer in Berlin, musste aber wegen Differenzen mit dem Kurfürsten nach Lübben im Spreewald wechseln. Merkmale seiner Lieder und deren großen Erfolges ist das „lyrische Ich“, das sich in guten und schlechten Zeiten an Gott wendet. Er spricht die Herzen der Menschen an, bleibt aber immer der strengen lutherischen Theologie treu.  Sein musikalischer Wegbegleiter  wird Johann Crüger (1598 – 1662), der Melodien zu Gerhardts Liedern schreibt, z. B. zu EG 112 und EG 332. Paul Gerhardts Lieder  verbreiteten sich  in ganz Deutschland.

Noch 2021 wurde EG 503 „Geh aus, mein Herz“ in einer Umfrage zum beliebtesten Kirchenlied gewählt, auch von kirchenfernen Menschen.

Der Barockdichter Martin Opitz legte 1624 Regeln fest für die deutsche Dichtkunst, wie ein gutes Gedicht aufgebaut sein sollte und was vermieden werden sollte. An diesem Maßstab mussten sich nun auch Kirchenlieder messen lassen. Manche Dichter und Gesangbuchherausgeber bearbeiteten nun ihre Gedichte und Liederbücher nach den  neuen Vorgaben. Besonders schöne und formreine Gedichte schrieb Andreas Gryphius. Mitten im 30jährigen Krieg entstand  sein Lied: „Die Herrlichkeit der Erden  muss Rauch und Asche werden“ (EG 521), zu singen  nach der Melodie von EG 527 „O Welt ich muss dich lassen“.

Prägend für das 18. Jahrhundert sind zwei Strömungen:

  1. Der Pietismus, die wirkungsvollste Frömmigkeitsbewegung nach der Reformation mit großem Einfluss auf die deutschsprachigen Gesangbücher,
  2. Die Aufklärung.

Diese beiden Strömungen lassen sich zeitlich nicht genau abgrenzen.

Der Vorreiter des Pietismus, Philipp Jacob Spener, fordert in seiner Schrift „Pia desideria“: „Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche“. Das Frömmigkeitsbestreben wurde  mehr individualisiert und auch in den  häuslichen Bereich verlegt. Hierbei kamt dem Gesang eine besondere Stellung zur geistigen Erbauung zu.

August Herrmann Francke entwickelte in einem Waisenhaus bei Halle neue Formen der pädagogischen und geistlichen Glaubenserziehung. Prägend hierfür war das

Gesangbuch von Johann Anastasius Freylinghausen, in dem er seine pietistische Liederkultur schuf, bald bekannt als „der Freylinghausen“.

Am bekanntesten aber ist die Herrnhuther Brüdergemeinde, deren Gründer Nikolaus Ludwig Reichsgraf von Zinzendorf war. Er hate eine Adlige aus einem mystisch-spirituell geprägten Elternhaus geheiratet und nahm auf seinem Gut Berthelsdorf bei Herrnhuth (Sachsen) Mitglieder der Böhmischen Brüder auf. Dort entwickelte er Regeln für das Zusammenleben in einer christlichen Gemeinschaft und verfasste theologische Schriften und Lieder (Er war ursprünglich Jurist gewesen). Einige seiner Lieder finden sich heute noch im EG (EG 392, 198,1 und 251).

Auf dem Gut lebte eine feste Gemeinschaft von Männern, Frauen und Kindern und nach ihrem Vorbild entstanden Tochtergemeinschaften in der ganzen Welt, die größte heute in Tansania.

Auch die Gesangbücher der Zeit wandelten sich, die Lieder sollten Hinweise und Ratschläge für die Lebenssituationen der Gläubigen geben.

Im Zuge der Aufklärung wurden auch Lieder umgedichtet und an die neuen theologischen Vorstellungen angepasst. Das ging so weit, dass einer der Um-Dichter als „Gesangbuch Vandale“ bezeichnet wurde.  Dagegen regte sich jedoch Widerstand aus den Gemeinden, die ihre alten Lieder behalten wollten.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstand eine starke restaurative Bewegung. Man wollte zu den Wurzeln zurückkehren, d. h. zur Reformation und den Reformatoren mit ihren glaubensstarken Liedern, besonders zu  Martin Luther.  Einige namhafte Dichter, z.B. Ernst Morit  Arndt, beklagten sogar eine „Gesangbuchsnoth“, einmal wegen der bearbeiteten oder neuen Lieder der Aufklärungszeit, zum anderen wegen der Aufsplitterung in eine Vielzahl von regionalen Gesangbüchern.  Der Ruf nach einem deutschen evangelischen Einheitsgesangbuch wurde laut. Dieses erschien zwar erst 1915, aber die Vorbereitungen begannen im 19. Jahrhundert.

Am Vorabend des Reformationsjubiläums 1817 wurde eine Gesangbuchkommission gebildet, die ein neues einheitliches evangelisches Gesangbuch erstellen sollte. Das prominenteste Mitglied war Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834), Theologie-Professor, und Prediger. Er hatte in seinen Gottesdiensten Lieder aus verschiedenen Gesangbüchern  verwendet und auf diese Weise    viele einzelne Liedblätter gesammelt. Diese konnten an der Kirchentür gekauft werden. Von den über  1000 Liedern, die er gesammelt hatte, wurde die Hälfte von der Gesangbuchkommission als Grundlage für ein  Einheitsgesangbuch  übernommen. Schleiermacher bevorzugte das Liedgut der Herrnhuther und der neueren Liederdichter.

Die Einteilung des Gesangbuches orientierte sich an der Gottesdienstordnung. So entstand nach 10jähriger Arbeit das „Berliner Gesangbuch“  unter der Mitarbeit von Theologen, Predigern und Kirchenmusikern. Es begann mit EG 347 „Ach bleib mit deiner Gnade“. Es wurde aber nicht weit verbreitet.

Auf der ersten evangelischen Kirchenkonferenz 1852 in Eisenach wurde wiederum beschlossen, dass es ein Einheitsgesangbuch für die deutschsprachigen evangelischen Länder geben müsse. Bei aller Vielfalt der unterschiedlichen Landeskirchen war man sich einig, dass die Gemeinsamkeit der evangelischen Christen in Luthers Bibelübersetzung und dem Liedgut bestehe. Als Ergebnis der Konferenz wurde1854 das Deutsche Evangelische Kirchengesangbuch (DEG) mit 150 Liedern veröffentlicht. Es wurde wieder nicht von allen Landeskirchen übernommen, z. B gab die sächsische Landeskirche im Jahr von Luthers 400. Geburtstag 1883 ein eigenes Gesangbuch mit Liedern von Martin Luther und Paul Gerhardt heraus.

Im  20. Jahrhundert erschien das erste „Deutsche Evangelische Kirchengesangbuch für die Schutzgebiete und das Ausland“ (= Kolonien) im Jahr 1915.Die Auslieferung verzögerte sich wegen des 1. Weltkrieges, aber nach 1928 wurde es in vielen Landeskirchen und Provinzialkirchen eingeführt.

Die evangelisch-lutherische Kirche in Bayern brachte 1928 ein eigenes Gesangbuch heraus. Aufbau und Liedauswahl orientierten sich am Berliner Gesangbuch von 1854, aber es enthielt 342 Leder in den Rubriken

  1. Das Kirchenjahr
  2. Gottesdienst und Amtshandlungen
  3. Christliches Leben
  4. Tod und ewiges Leben

Im Jahr 1938 erschienen in Bremen „Lieder der kommenden Kirche“ in neuer Aufmachung, die an die Jugendsingbewegung erinnert: heller Einband, Querformat. Der Bremer Landesbischof Dr. Heinz Weidemann war Führer der „Kommenden Kirche“. In seinem Vorwort wird deutlich, dass es ihm darum gingt, den „alten Ballast auszumerzen“ und neue „zeitgemäße“ Lieder zu singen, um alle „guten Deutschen“ zu verbinden“.

In dem gleichen Geist erschien ein Gesangbuch mit 186 Liedern, für das der Göttinger Theologieprofessor und deutsche Christ Emanuel Hirsch verantwortlich war. Er propagierte und förderte es 1939 als „Kern eines künftigen Reichsgesangbuches“

Natürlich gab es Kritik von namhaften Theologen an dieser Ausrichtung des Gesangbuches, es wurde als für den Gottesdienst ungeeignet erklärt. Diese Kritiker und Mitglieder der Bekennenden Kirche wurden ihrer Ämter enthoben.

1941 brachte ein Verlag der „Deutschen Christen“ ein  Gesangbuch heraus, für das es eine besondere Papierzuteilung gegeben hatte und das in mehreren 10.000 Exemplaren gedruckt wurde mit dem Titel „Großer Gott, wir loben dich“. Vorangestellt waren Goethes Verse aus dem Faust: „Die Sonne tönt nach alter Weise…“ und war eingeteilt in die Rubriken

  1. Lobgesang
  2. Heilig Vaterland
  3. Feiernde Gemeinde
  4. Im Jahreslauf
  5. In der Stille
  6. Von frommer deutscher Lebensart
  7. Lieder der Kameradschaft

Die Lieder sind dichterisch unbedeutend und unchristlich, das 1. Lied ist eine Verkürzung von „Großer Gott, wir loben dich“. Die Aufmachung ist altdeutsch, die Abbildungen erinnern an Ludwig Richter.

Ebenfalls 1938 erschien  dann das Büchlein „Kyrie. Geistliche Lieder“ von Jochen Klepper. Von den 16 Liedern stehen noch 12 im EG. Sie gehören zum Besten evangelischer Liederdichtung. Nach dem Krieg gab es wieder Bestrebungen für ein einheitliches evangelisches Gesangbuch, dieses Mal aus der Generation der Jugend- und Wandervogelbewegung (Fritz Jöde, Walther Hensel).

1947 wurde vom Verband evangelischer Kirchenchöre in einer Mitteilung an die Kirchenleitungen ein einheitliches Gesangbuch gefordert, unterzeichnet vom Reichsobmann des Verbandes evangelischer Kirchenchöre Deutschlands, Oberlandeskirchenrat Prof. Dr. Mahrenholz. Man legte die Neubearbeitung des Gesangbuches von 1913 vor mit der Bitte, diesen Entwurf zu prüfen. Daraufhin erschien noch 1947 das „Gesangbuch für die evangelische Christenheit“, herausgegeben vom Verband Evangelischer Kirchenchöre Deutschlands mit 335 Liedern ohne Noten in 50.000 Exemplaren, das von den zuständigen Stellen und Landeskirchen geprüft werden sollte. Es war noch nicht für den praktischen Gebrauch bestimmt. Im März 1948 gab es dazu ein Melodiebuch.

1950 erschien dann die Stammausgabe des EKG, zu deren Grundsätzen sich Mahrenholz äußerte: „Es ging um die Wiedergewinnung eines Liedkanons für die evangelischen Kirchen deutscher Zunge, der das auf eine längere Zeit hin gemeinsame und verpflichtende Liedgut enthält“. Hierzu hatte man hauptsächlich auf Lieder der Reformation zurückgegriffen. Es gab einen Stammteil und landeskirchliche Anhänge, die Gliederung entsprach weitgehend der im heutigen EG. Von den seinerzeit neuen Liedern waren fünf von Rudolf Alexander Schröder und drei von Jochen Klepper. Bekannte geistliche Volkslieder wie „Tochter Zion“, „So nimm denn meine Hände“ und „Ihr Kinderlein kommet“ sowie „Wir pflügen und wir streuen“ wurden in die landeskirchlichen Anhänge aufgenommen.

Ab 1979 wurde an einem neuen Gesangbuch gearbeitet und die Liedauswahl neu bedacht. 1988 wurde ein Vorentwurf vorgelegt, der weitgehend dem Stammteil des EG entspricht und neben Liedern auch Andachten, Bekenntnisse, Psalmen, Gebete usw. enthält. Texte und Melodien wurden sorgfältig geprüft, man achtete auf die Ökumene und auch Genderfragen wurden thematisiert, was aber bei alten Liedern schwierig ist. Man hat bei den Liedern, die auch poetische Kunstwerke sind (Paul Gerhardt und Matthias Claudius) auf modernistische Anpassung verzichtet.

Die Einführung des EG begann 1993. Das bayrische Gesangbuch, das durch seine farbige Aufmachung überzeugte, wurde später von der Kirche in Mitteldeutschland und der Nordkirche übernommen.

1996 war das EG in allen Landeskirchen übernommen. Das EG ist nicht nur ein Gesangbuch, sondern ein „christliches Haus- und Gebetbuch“. Es hat einen guten Weg zwischen Tradition und Innovation gefunden, indem es in der Tradition der Reformation steht, aber auch neuere geeignete und bewährte Lieder übernommen hat. Theologische, poetische und musikalische Qualität sind die Kriterien, nach denen Lieder überdauern.

 

Literatur:
„Singt dem Herrn ein neues Lied“ – 500 Jahre Evangelisches Gesangbuch, Johannes Schilling, Brinja Bauer, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2023
„Damit das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibe“, 500 Jahre Evangelisches Gesangbuch, Rainer Köpf, Verlag am Birnbach  o.J.